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AutorenbildJulia Schallberger

Kolumne Gedankenstrich: Hanami

Aktualisiert: 31. Mai 2023

Erschienen im Wochenblatt, am 20. April 2023


Mädchen unter Kirschblütenbaum in Nuglar, © Julia Schallberger

Es war um die Ostertage herum, als meine Zwillinge und ich plötzlich viel länger brauchten, um in den Bus vor unserer Haustür einzusteigen. Und dieses Mal lag es nicht am überbreiten Kinderwagen, sondern an den Scharen von Spaziergängerinnen und Spaziergänger, die uns entgegenströmten. Alle zielten in Richtung Chirsiweg, der sie von Nuglar nach Büren führen sollte. Ich fragte mich kurz, ob ebenso viele Leute anreisen würden, wenn die 5000 Kirschenbäume das ganze Jahr über in weisser Blütenpracht stünden. Wohl kaum. Denn ist es nicht gerade die fragile Anmut der Blüten, die uns anzieht und mit der wir die schwermütige Gewissheit verbinden, dass diese schon bald wieder verblühen werden?


Alles was also zählt, ist, dass man vor Ort ist. Rechtzeitig, um mit eigenen Augen die zarte Schönheit einzufangen, bevor dir Natur ihr Geschenk zurückzieht.

Dass uns ein Spaziergang in berauschender Natur gut tut, ist keine neue Erkenntnis. Einige von uns mögen gerade in den letzten Jahren besondere Naturerfahrungen gemacht haben. Sei dies, weil die freie Natur eine angenehme Alternative zu überfüllten Innenräumen bot, oder weil sie die klimabewusste Entscheidung getroffen hatten, aufs Fliegen zu verzichten und stattdessen ihre nahe Umgebung zu erkunden. So brauchen wir – wie das Exempel zeigt – nicht nach Japan zu fliegen, um ein Meer von Kirschblüten vorzufinden. Wenngleich wir dafür das Kaugummirosa gegen strahlendes Weiss eintauschen müssen.


In Japan wird die Kirschblütenzeit von Anfang März bis Ende Mai zelebriert und gefeiert, indem man sich zum Picknick unter den Bäumen trifft. Die Japaner nennen diese Tradition «Hanami», was übersetzt «Blüten betrachten» heisst. Symbolisch gesehen, geht es um das achtsame Innehalten und Geniessen des vergänglichen Lebens, aber auch um das Willkommen-Heissen des Frühlings. Während die japanischen Kirschbäume («Sakura») keine Früchte ausbilden und sich somit die ganze Vorfreude und Erwartung auf die Blütezeit beschränkt, freuen wir uns in der Schweiz im Mai über prächtig rote Kirschen.


Kurzum, wir lassen unseren Kirschbäumen rund vier Monate ungeteilte Bewunderung zukommen. Doch was ist mit den restlichen acht Monaten Wachstum und Überleben? Dann, wenn die Bäume ihr Laub hervorbringen, Kirschessigfliegen aushalten, Schatten spenden und Tieren Unterschlupf bieten? Dann, wenn sie mit ihren knorrigen Armen, karg und schutzlos, der Kälte und dem Frost trotzen, um uns im Frühling mit neuen Blüten zu erfreuen? In dieser Zeit erscheinen mir die Bäume wir starke Beziehungen, alte Bande, auf die wir uns verlassen können, weil sie immer da sind. Doch benötigen auch diese Aufmerksamkeit und eine anhaltende Pflege. Was ich damit sagen will: lasst uns die Euphorie, die wir zur Bluescht-Zeit der Natur und dem gemeinsamen Unterwegssein entgegenbringen, in den Alltag übernehmen. Kurzum, lasst uns dem Beständigen, wenig Pompösen mit der gleichen Neugier begegnen. Belohnt werden wir auf jeden Fall. Etwa dann, wenn wir am 4. Dezember – am sogenannten Barbaratag – einen frostigen Kirschenast ins warme Wasser stellen und dieser pünktlich zum Jahreswechsel die ersten Blüten hervorbringt.


Julia Schallberger, April 2023

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