Erschienen im Wochenblatt am 28. November 2024
Morgenmensch oder Nachteule?
Wie ist das bei Ihnen? Zählen Sie zu den fröhlichen Morgenmenschen oder sind Sie eher ein Kind der Nacht? Ich selbst gehöre – geht es um Leistungsfähigkeit und Kreativität – eindeutig zur ersten Gruppe. Doch egal ob man gerne früh oder spät in die Federn findet – wir alle kennen die Abende, an denen der Schlaf nicht gelingen will. So kann es sein, dass, wie dies in unserem Haus der Fall ist, das Bett gleich unter dem Dachfenster steht und bei Vollmond- und Sturmnächten, das Flutlicht und der Wind das Schlafzimmer förmlich durchdringen. Häufig sind es aber auch einfach die nicht enden wollenden Gedanken an den vergangenen Tag oder an Bevorstehendes, das noch zu erledigen ist. Diese Situation kenne ich zurzeit gut. Der Grund dafür ist, dass ich als Gastkuratorin im Kunstmuseum Olten in nur wenigen Tagen eine Ausstellung eröffne. Der Titel dieser Ausstellung lautet «Walter Grab. Ein Kind der Nacht». Dabei geht es um die Wiederentdeckung eines Schweizer Nachkriegssurrealisten.
Walter Grab - Ein Kind der Nacht. Wiederentdeckung eines Schweizer Surrealisten
Walter Grab war ein Zürcher Maler, dem in den frühen 1950er-Jahren der Durchbruch gelang, der aber nach seinem Tod 1989 zu Unrecht wieder in Vergessenheit geriet. Geboren ist er 1927 in Affoltern am Albis. Um 1952 zog er mit seiner Frau und dem neugeborenen Sohn in eine winzige Wohnung in Wipkingen. Dort schuf er auf kleinstem Raum über 1000 Gemälde, Papierarbeiten, Collagen und Assemblagen. Häufig arbeitete er in der Nacht. Das Wohnzimmer diente ihm als Atelier und erinnerte – dicht befüllt mit zahlreichen Arbeitsutensilien und gesammelten Fundstücken – an eine Art Wunderkammer. Zuhause zog sich Walter Grab häufig in die Stille zurück und im Akt des Kunstmachens war er ein fleissiger, höchst präziser und ordentlicher Feingeist. In der Öffentlichkeit aber galt er als Choleriker und Suchtmensch, der vielerorts aneckte. Zwischen diesen Gegensätzen lebend und wirkend, schuf er ein beeindruckendes Werk, das sich zwischen mystischer Altmeisterlichkeit und ironischer Experimentierfreude bewegt.
Nächte auf dem Land versus Stadtnächte
Erleben wir auf dem Land gerade die Winternächte häufig als still und magisch, fast so, als würde die Welt die Luft anhalten, so mögen Städter:innen die Nacht ganz anders wahrnehmen: vielleicht als lebhaft, prickelnd – als Raum, in dem sich schlaflose Seelen in Restaurants, Clubs, öffentlichen Kulturhäusern und geheimen Runden treffen. Die Nacht hat viele Gesichter: die einen erleben sie als leuchtend, magisch, als Gefäss voller Träume, Liebe und Geborgenheit; die andern empfinden sie als Gefahrenraum, in dem Angst und Dunkelheit vorherrschen.
Walter Grabs Gemälde sind geprägt von diesen Gegensätzen – motivisch und atmosphärisch. So schrieb er 1953 selbst in einem Gedicht die Zeilen:
«Ich bin ein Kind der Nacht, umgeben von Weichheit und schüchterner, oft aber auch drohender, unsicherer und stumpfer Leere. Donner und Blitz haben an meiner Wiege Paten gestanden, und man sagt der Tag habe mich gezeugt.»
Mit diesen Worten schliesse ich ab und hoffe, noch ein paar Stunden Schlaf zu kriegen. Bonne nuit.
Hinweis: In der Ausstellung öffnen wir schliesslich ein Fenster für 6 zeitgenössische Positionen, die zeigen, dass der Surrealismus als Haltung bis in die Gegenwart wirkt. Sie sehen daher neben Werken von Walter Grab Bilder und Skulpturen von:
Félicia Eisenring (*1985)
Julia Schallberger, November 2024
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